Auch ohne Fakten lässt sich prima spekulieren

Im Pressekodex des deutschen Presserates heißt es in Artikel 12.1:

„In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht.“

In Niedersachsen hat ein Mann seine 13-jährige Tochter erschossen, nachdem beide von einem Gespräch beim Jugendamt zurückkehrten. Die Hintergründe für die Tat sind zum Zeitpunkt der ersten Berichterstattung vollkommen unbekannt. Die Medien, darunter Die Zeit Online und Spiegel Online, hält das aber nicht davon ab, auf gut der Hälfte ihrer Beiträge über die ethnische und religiöse Herkunft des Täters zu berichten und parallelen zu anderen Fällen zu konstruieren.

Der Text kommt offenbar so von der Nachrichtenagentur dpa. Eine Agentur, so habe ich es damals jedenfalls noch gelernt, die sich bei ihrer Berichterstattung nüchtern und neutral auf Fakten bezieht und jegliche Ausschmückungen vermeidet. Diese Zeiten sind offenbar vorbei.

Im Anreißer beschränkt sich der Beitrag noch auf die Erwähnung der irakischen Herkunft des Mannes. Da man aber bislang nicht mehr als über den Tod des Mädchens und die Flucht des Mannes berichten kann und so ein Artikel dann so schrecklich unbefriedigend für den Leser ist, pflückt der Beitrag in der zweiten Hälfte die Religionszugehörigkeit des Mannes auseinander. Denn dahinter verbirgt sich alles, was man für eine gute Story braucht.

Er sei jesidisischen Glaubens heisst es da. Und da dies dem Otto-Normal-Leser vielleicht noch nicht reicht, vergisst man natürlich nicht zu erwähnen, dass die Jesiden Kurden sind und vor allem aus dem Irak, der Türkei und Syrien stammen. Uuh, Kurden. Da war doch was…

Doch die Nachrichtenmacher kennen natürlich die Gedankengänge ihrer Leser und legen sofort nach. Die Jesiden pflegten ein religiöses Verständnis aus vorislamischer – ja gar vorchristlicher – Zeit heisst es da. Ah! Religöse Hinterwäldler, ach was sag ich, Steinzeitmenschen also…

Wir erinnern uns: Über die Hintergründe der Tat konnte man noch nichts berichten. Streit in der Familie habe es gegeben. Ein Termin beim Jugendamt war anberaumt, zu dem der Mann mit seiner Tochter auch erschien. Anschließend erschoß er seine Tochter, als sie ins Auto einsteigen wollte.

Damit nun aber auch der begriffstutzigste Leser kapiert, auf welche Story man hier abzielen möchte, werden parallelen zu dem Fall einer 18-jährigen Kurdin, ebenfalls Jesidin, gezogen. Diese hatte sich in einen deutschen Jungen verliebt und war plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Hier wird die Familie für ihr verschwinden verantwortlich gemacht, diese schweigt aber beharrlich.

Aber wie sahen denn nun die bislang bekannten Fakten in diesem Fall aus? Es wird nur von Streit in der Familie gesprochen. Daher wohl auch der Besuch beim Jugendamt. Alles andere? Spekulation. Hatte das Kind etwa schon einen deutschen Freund? Sollte es zwangsverheiratet werden? Musste es sterben, weil es sich dem religiösen Willen des Vaters entzog? Nichts davon war zu diesem Zeitpunkt bekannt. Selbst in der Pressemitteilung der Polizei ist lediglich von einem Iraker die Rede. Mehr nicht.

Was bleibt sind Vermutungen über Vermutungen. Das ist Stoff für schlechte Boulevardblätter, aber nicht für eine Presseagentur wie die dpa oder Magazine wie „Die Zeit“ oder „Spiegel Online“.

Wie heisst es im Pressekodex weiter?

Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren
könnte.

Also ich habe nach diesem Beitrag wieder eine Menge neuer Vorurteile gesammelt. Allerdings nicht nur gegenüber Kurden, Iraker, Türken, Syrer, Moslems oder Jesiden. Vor allem auch Vorurteile gegenüber Journalisten…

Update 10.12.2011: Nach einigen Tagen kommen mehr Details über die Hintergründe ans Licht. Jetzt, wo das Bild klarer wird, ist die genauere Analyse und kritische Auseinandersetzung mit der Thematik richtig und wichtig.

 

3 Kommentare

  1. Es geht hier wohl weniger um Vorurteile sondern eher um die Sozialisation der Tochter in ihrem zunächst arabischen Umfeld und dann seit 2008 auch in Deutschland. Als Auslöser der Tat kommt doch durchaus der Konflikt zwischen den irakisch-jesidischen Werten des Vaters und der Nichtanpassung der Tocher in Deutschland in Frage (wobei zu fragen wäre, welche „Werte“ in unsere konsumidiotischen Gesellschaft noch vertreten werden). Eine Erwähnung der ethnisch-religiösen Herkunft der Familie aus dem Irak ist also durchaus medienrelevant und sollte nicht mit den üblichen Reflexen bei der Berichterstattung über Straftäter mit „Migrationshintergrund“, also schlicht Einwanderer (wenn dieses böse Wort erlaubt ist), in die vorgeblich auslänfderfeindliche Berichtsecke geschoben werden. Fakten bleiben Fakten, auch wenn sie nicht genehm sind…

  2. Eben nicht. Zum Zeitpunkt der Berichterstattung gab es diese ganzen Informationen nicht. (Gibt es sie jetzt?). Daher ist handelte es sich um reine Spekulation und gehört nicht in einen Bericht. Schon gar nicht in einen einer Nachrichtenagentur. Dennoch hat man fast 50% des gesamten Beitrags dafür verwendet. Genauso war es in Oslo. Da „passten“ die Hintergründe für den Bombenanschlag in der Hauptstadt auch so schön zu islamistischem Terror. Die Sache schien Glasklar, die Medien überschlugen sich mit Analysen, Meinungen und Hintergrundberichten über islamistische Terrortaten. „Experten“ äußerten sich im Minutentakt auf allen Kanälen. Am Ende lagen sie alle falsch. Es war ein radikaler islamophober Spinner und selbst ernannter Kreuzritter. Genau aus diesem Grund hat man das Spekulieren zu unterlassen. Dafür gibt es einen Pressekodex, der offenbar immer mehr in Vergessenheit gerät. Hauptsache Quote.

  3. Der ethnisch-religiöse Hintergrund wäre nur dann relevant, wenn man den angesprochenen Gruppen auch gleichzeitig eine entsprechende Gewaltbereitschaft (bis hin zur Tötung) als pauschales Merkmal ihres Hintergrundes unterstellen würde.

    Tut man das nicht, hat der Hintergrund soviel Relevanz für den Artikel, wie die Tatsache, ob der Täter mit oder ohne Vorhaut zur Tat erschienen ist.

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