Google und die Vorratsdatenspeicherung: Die Hotpants der Datengrapscher

Sigmar Gabriel, Bundesvorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), nutzt Twitter. Das ist gut. Er nutzt es auch als beiderseitigen Kommunikationskanal und antwortet anderen Nutzern. Auch das ist gut. Ein deutscher Politiker, der Twitter auch als Dialogplattform nutzt ist nicht selbstverständlich. Aber das, was er heute über die Vorratsdatenspeicherung gesagt hat und vor allem, wie er sie rechtfertigt, das ist überhaupt nicht gut. Aber fangen wir ganz von vorne an.

Hintergrund

Eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2006 verlangt von jedem Mitgliedsstaat, die Telekommunikationsanbieter zu verpflichten, die „Verkehrsdaten“ ihrer Kunden aufzuzeichnen. Deutschlands setzte danach einen Gesetzentwurf um, bei dem von jedem Bundesbürger gespeichert werden sollte wer wann wie lange mit wem telefoniert oder wann wie lange wohin im Internet gesurft hat. Man hätte auch jedem eine Fußfessel umschnallen können, die Daten darüber sammelt, wann wir wohin gehen und mit wem wir uns wann treffen: Am 2. März 2010 hat das Bundesverfassungsgericht die deutschen Vorschriften zur Vorratsspeicherung für verfassungswidrig erklärt.

Doch die EU-Richtlinie gilt weiterhin und setzt Deutschland in Umsetzungszwang. Der irische High Court klagte im Jahr 2010 gegen die Richtlinie. Aus Deutschland keine Gegenwehr.

Nun hat die Europäische Kommission Ende Mai Klage gegen die Bundesrepublik vor dem Europäischen Gerichtshof wegen Nichtumsetzung der Vorratsdatenspeicherung eingereicht. Bis zur Übertragung der Richtlinie muss Deutschland täglich ein Zwangsgeld in Höhe von rund 315.000 Euro zahlen, sollte das Land verurteilt werden.

Siegmar Gabriel

Klar, das Zwangsgeld ist teuer. Und die ganze Angelegenheit ist mehr als ärgerlich. Doch statt sich über die EU-Richtline aufzuregen, wettert Siegmar Gabriel lieber gegen die FDP, die sich im Gegensatz zu CDU/CSU und großen Teilen der SPD strikt gegen eine Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen hat. Dabei hat Gabriel leichtes Spiel: Die FDP steckt im Umfragetief und nichts regt den Bundesbürger mehr auf, als verschwendete Steuergelder. So twitterte Gabriel an den Bundesvorsitzenden der Jungliberalen Lasse Becker:

@lassebecker Die FDP hat uns erstmal mit ihrer Blockade zur VDS Strafzahlungrm der EU eingebracht. Weil KEINE VES eben KEINE Option ist.

In der darauf folgenden und zu erwartenden Welle der Entrüstung auf Twitter verteidigt Gabriel seine alternativlose Haltung zur Vorratsdatenspeicherung mit der Begründung, auf die Daten werde selbstverständlich nur auf Richterbeschluß bei „schwersten Straftaten“ zurückgegriffen.

@Stoewhase Der Zugriff auf Telefon- u Interentverbindungen erfolgt (1.) ohne Content und (2.) nur nach richterl. Beschluß (schw. Straftaten)

Sigmar Gabriel möchte, dass wir dem Staat vertrauen.

Jedoch: Ein Staat, der seine Bürger ohne konkreten Verdacht überwachen will, genießt mein Vertrauen in keinster Weise! Und Beispiele dafür gibt es ja genug. Schon heute sind mehrere Fälle bekannt, in denen Polizeibehörden die Mobilfunknetze in einer Art Rasterfahndung durchforstet haben. Fälle, bei denen Löschfristen für Vergehen nach Zeit X nicht eingehalten wurden. Fälle bei denen auch bei minderschweren Vergehen unverhältnismäßige Ermittlungsmethoden angewendet wurden.

Wann immer sich die Möglichkeit ergibt, einmal erhobene Daten zu nutzen, wird man dies auch immer versuchen.

So fängt es jedesmal an. Auch die damalige Familien-, heute Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wollte ihre ohnehin nutzlosen Websperren (das lustige Stopp-Schild) damals nur für Kinderpornographie eingesetzt wissen. Es dauerte aber nicht lange, bis dadurch andere Begehrlichkeiten geweckt wurden. Erst nur gegen Pädophile, dann gegen Rechtsradikale und irgendwann waren die Schranken so weit gefallen, dass auch die Musikindustrie Hoffnung schöpfte, sie könnte bei der Politik Websperren gegen Internetseiten mit illegalen Downloads durchsetzen. Jeder, der irgendwas im Netz fand was ihm nicht gefiel, forderte plötzlich ein Stoppschild von den Providern.

Warum sollte das bei der Vorratsdatenspeicherung anders sein? Wenn erstmal die Infrastruktur eingerichtet ist, die den Telekommunikationsunternehmen die lückenlose Erfassung sämtlicher Verkehrsdaten ihrer Nutzer ermöglicht, dann steht ein Instrument parat, mit der praktisch jedes große und kleine Vergehen auch viel später noch problemlos verfolgt werden kann. Es kommt nur darauf an, wer die beste Lobbyarbeit betreibt und die Politiker überzeugt.

Und genau das habe ich versucht, in den 140 knappen Zeichen die einem Twitter ermöglicht, Herrn Gabriel auch zu verdeutlichen:

Alternativlos findet @sigmargabriel die VDS und spricht von "für schwerste Straftaten" So fängt es immer an. Dann kommt die Contentindustrie
Er nahm sich die Zeit zu Antworten. Das freut mich. Doch den Inhalt fand ich weniger erfreulich; Warum man sich einerseits über die Datenspeicherung aufrege, aber andererseits seine Daten überall im Netz verteile. Schließlich würde Google doch „Millarden mehr“ an Daten speichern.

Unterschied zwischen „freiwillig“ und „Zwang“

Hier, sehr geehrter Herr Gabriel, liegt ein großer Denkfehler vor. Aber es ist nicht das erste Mal, dass ich auf diese Einstellung stoße. „Ihr jungen Leute, ihr schreibt doch eh alles auf Facebook, Privatsphäre ist doch für euch ein Fremdwort“. Das habe ich schon öfter gehört. Meist von Seiten der, ich nenne sie mal, „netzfernen Schichten“.

Was ich auf Twitter schreibe, was ich auf Facebook poste, wo ich mich auf Foursquare „einchecke“, das alles geschieht freiwillig. Und wenn ich etwas nicht sagen möchte, dann twittere ich es nicht. Wenn ich ein Bild von der letzten Party nicht im Internet haben möchte, dann poste ich es nicht auf Facebook, und wenn ich nicht möchte, dass jemand weiß wo ich gerade bin, dann checke ich mich nicht auf Foursquare ein. Ich lasse Google auch ungern mein Surfverhalten protokollieren. Entsprechende Tools und ein kritischer Umgang mit den allseits beliebten „Cookies“ helfen beim anonymeren Surfen.

Datensammelwut

Auch ich finde die Datensammelwut von Facebook & Co. nicht unbedingt ok. Aber man bietet mir einen kostenlosen Service, und mir ist klar, dass sich ein Unternehmen irgendwie finanzieren muss. So fülle ich mein Profil nicht unbedingt mit allen oder korrekten Daten aus. Kurz: Das Netz will Informationen, ich werfe ihm ein paar Häppchen hin. Aber welche, das entscheide ich!

Ginge es nach der Vorratsdatenspeicherung,  können wir morgen auch anfangen, jeden Brief und jedes Paket am Postamt zu protokollieren. Wer schreibt wann an wen und wohin. Überall stellen wir Kameras auf, mehr als wir ohnehin schon haben. Wir überwachen jeden Bürger auf Schritt und tritt. Und überhaupt: Auch die Eingangs von mir erwähnte Fußfessel wäre doch ein wunderbares Mittel, schwere Straftaten auch im Nachhinein aufzuklären. Statt Fußfessel könnte man ja stylische Armbänder oder Halsketten verteilen. Oder am besten gleich einen Ortungschip implantieren.

All das rechtfertigen wir mit der Verbrechensprävention. Natürlich würden die Daten nur im Falle schwerer Vergehen abgefragt. Wer nichts anstellt, hat auch nichts zu befürchten… Willkommen in George Orwells 1984.

Datengrapscher

Für mich offenbart die Reaktion Sigmar Gabriels aber noch mehr. Nämlich eine verächtliche Einstellung zu einer selbst gewählten Privatsphäre der netzaffinen Bürger. Im Grunde sagt Gabriel nämlich: Ihr nehmt es doch sonst nicht mit dem Datenschutz so ernst, was kümmert euch also die Vorratsdatenspeicherung?

Ich versuche es mal mit einer, zugegeben etwas provokanten, Analogie: Nur weil sich eine Frau für den Discoabend in Hotpants zwängt, ist es noch lange nicht ok, ihr ungefragt ans Hinterteil zu fassen.

 

 

 

 

 

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