Die Geister, die ich rief: Vorsicht vor dem virtuellen Mob

Soziale Netzwerke eignen sich perfekt, um Nachrichten aller Art in Windeseile eine breite Aufmerksamkeit zu geben. Doch nicht immer sollte man alles vorschnell ins Netz streuen. Besonders bei Straftaten, kann der Weg in die Netzöffentlichkeit außer Kontrolle geraten. Wer das Web benutzt, um in Eigenregie mutmaßliche Übeltäter in aller Öffentlichkeit an den Pranger zu stellen, macht sich am Ende selbst angreifbar. Im schlimmsten Fall erwischt es gar unbeteiligte Dritte. Schlimm, wenn sich auch noch Politiker an der virtuellen Hetzjagd beteiligen, wie nun geschehen:

Am vergangenen Samstag, dem Abend des Champions-League Finalspiels zwischen Borussia Dortmund und Bayern München im britischen Wembley, sitzt eine Junge Frau in der Berliner S-Bahn, als sie nach eigenen Angaben auf eine Gruppe von angetrunkenen Männern trifft, von denen Sie mindestens einer beschimpft und auch mit sexuellen Übergriffen bedroht. Auf Twitter schildert sie unter dem Namen @totalreflexion die Vorkommnisse. Einer der Männer soll vor ihr gar seine Hose geöffnet und sein Glied entblößt haben. Sie beschreibt weiter, wie die anderen Männer ihren Freund zurück halten und wie sie selbst an der nächsten Haltestelle weinend ausgestiegen sei. Vier Frauen hätten sie dort getröstet und gefragt, ob sie den Vorfall der Polizei melden wolle. Ihre Antwort „die können da nichts machen“.

Nun wird aber @totalreflexion selbst aktiv: So machte sie während des Vorfalls ein Foto vom mutmaßlichen Übeltäter. Zu sehen ist ein junger Mann, der sich in der S-Bahn am Fenster sitzend die Hand vor das Gesicht hält. Von Links hält ein anderer eine Vodkaflasche ins Bild. Wirklich zu erkennen ist niemand auf dem Bild. Dennoch macht der Tweet in Windeseile im Netz die Runde. Auch der dabei von ihr genutzte Hashtag #Aufschrei trägt mit Sicherheit zur besseren Verbreitung bei.

Aktionismus schlägt Hirn

Es dauert es nicht lange, dann beginnt die virtuelle Jagd auf den mutmaßlichen Täter. Mit prominenten Helfern: Stefan Bischof, Grüner Spitzenkandidat zur Bundestagswahl 2013 und Mitglied im Landesvorstand der Grünen in Sachsen Anhalt ruft auf Twitter dazu auf, den unbekannten zu identifizieren. Nur kurze Zeit später retweetet der Grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck diesen Aufruf. Beck hat selbst über 32.000 Follower. Spätestens damit hat der Vorfall eine breite Netzöffentlichkeit erreicht.

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Wer für einen Moment innehält und über die Situation nachdenkt, müsste sich über die Sinnlosigkeit, ja sogar Gefahr dahinter, im Klaren werden. Dem Opfer kann man in der Situation wohl weniger den Vorwurf machen, in einem vermutlich emotional aufgewühlten Zustand die richtigen Schritte zu wählen. Wohl aber sollte man dem mitlesenden Twittervolk, und vor allem gewählten Volksvertretern, mehr Hirnschmalz zutrauen ob eine solche Aktion nicht schnell zum Bumerang wird.

Welchen Sinn hätte das Identifizieren der Person gehabt? Nach eigenen Angaben ist das Opfer an dem Abend nicht zur Polizei gegangen. Selbst wenn also jemand einen Hinweis geben könnte, bei der Polizei stieße man damit wohl auf taube Ohren – schließlich lag zu dem Zeitpunkt keine Anzeige über den Vorfall vor.

Was also hätte man überhaupt als unbeteiligter mit dem Foto anfangen sollen? Jeden, der dem kaum erkennbaren Mann ähnlich sieht, die gleiche Haarfarbe oder Klamotten trägt und sich zufällig in der Nähe eines S-Bahnhofs in Berlin aufhält, eins über die Rübe ziehen? Wohl kaum.

Wer ist @totalreflexion?

Nun ist auch das Opfer dieses Übergriffs keine unbekannte Person. Hinter @totalreflexion, Nickname „kathy“, steht die Diplom Soziologin Anna-Katharina Meßmer. Sie gehört zu den Initiatorinnen der #Aufschrei-Aktion auf Twitter. Viel ist von ihr und über sie in den Medien zu Aufschrei und zum Thema Sexismus allgemein zu lesen.

Im April stellte sie sich in der ZDF Talkshow „Maischberger“ den Fragen um die neue feministische Bewegung im Netz. In einem Interview mit dem Magazin Cicero beantwortete sie erst vor ein paar Tagen, warum sie zusammen mit anderen Feministinnen Bundespräsident Gauck in einem offenen Brief für seine Haltung zur neuen Sexismus-Debatte kritisierten. @totalreflexion ist also selbst keine private Unbekannte, sondern längst eine Person der Öffentlichkeit. Sie muss wissen, dass Sie mit ihrer Aktion vermutlich mehr Aufmerksamkeit erreicht, als eine vollkommen unbekannte Person mit privatem Twitteraccount und einer handvoll Followern.

Auf Twitter begann das unvermeidbare, ein Streit entflammt über das Für und Wider der Aktion. So kritisieren einige User, sie hätte das Foto gar nicht veröffentlichen dürfen, schließlich habe auch der Mann ein Persönlichkeitsrecht. Meßmer begegnet der Kritik mit der Aussage, der Person vorher gesagt zu haben, dass sie vor habe, das Foto zu veröffentlichen. Er habe nichts dagegen gehabt. Doch das ließe sich im Ernstfall wohl kaum nachweisen. Das Bild spricht eine andere Sprache: Wer nichts gegen ein Foto hat, hält sich wohl kaum die Hand vors Gesicht.

Bumerang privater Feldzug

Für Außenstehende bleibt die Situation undurchschaubar. Man fragt sich zwangsläufig, warum die Polizei nicht einschaltet wurde. Scham, wie ihn viele Opfer sexueller Übergriffe verspüren, kann es kaum gewesen sein. Sie hatte schließlich kein Problem gehabt, mit einer detaillierten Schilderung des Vorfalls und sogar einem Foto die breite Netzöffentlichkeit zu suchen. Doch das ist ein gefährlicher Pfad. Für sich selbst und Andere.

Wie sowas enden kann, wenn Menschen glauben, das Recht in die eigene Hand nehmen zu müssen, haben wir erst im letzten Jahr in Emden erlebt. Damals hat ein über Facebook aufgestachelter Mob das Leben eines vollkommen unschuldigen jungen Mannes zerstört, als man ihn fälschlicherweise beschuldigte, ein kleines Mädchen ermordet zu haben.

Nun muss auch Meßmer gemerkt haben, dass ihre Aktion eine unerwünschte Wendung genommen hat. Gab es Kritik oder gar Anfeindungen? Der Twitter-Account @totalreflexion ist mittlerweile geschützt und für Außenstehende nicht mehr lesbar. Ihr Profilfoto hat sie unkenntlich gemacht.

Das Soziale Netzwerk ist eben nicht dazu geeignet, für sich auf eigene Faust Gerechtigkeit zu schaffen. Auch im digitalen Zeitalter führt der Weg über die Behörden nicht vorbei. Hoffentlich hat Frau Meßmer jetzt doch noch Anzeige erstattet und alles Material der Polizei übergeben.

Allen virtuellen Hilfssherriffs sei gesagt: Lieber einmal mehr im Web die Füße stillhalten und dafür auf der Straße energisch einschreiten, wenn sich wieder einmal so ein Vorfall ereignet.

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